Das Genie
Diese Erzählung widme ich den Mitgliedern der Schriftstellervereinigung, sowohl den bereits verstorbenen als auch denen, die noch am Leben sind und der Literatur treu dienen.
Dass dem Dichter nun endlich eine Wohnung zugeteilt worden war, erfuhren zu allererst die Kollegen vom Literaturzentrum „Qələm“, die Feder. Am Abend jenes Tages, das heißt am Abend jenes denkwürdigen Mittwochs, erschien der „Gənc Qələm“- Preisträger Əhməd Ağləpə völlig unerwartet – woher auch immer – im Erdgeschoss des Gebäudes, schleppte sich erschöpft ans obere Ende des Foyers, lehnte sich dort an das kleine Fenster, über dem das Wort „Büfett“ geschrieben stand, trank in einem Zug drei Gläser Ayran, wie jemand, der sich vergiftet hatte, und ging dann in den ersten Stock, ins Zimmer des Direktors, um ihm diese Nachricht zu überbringen.
Ein Teil der Kollegen erklärte sich die Tatsache, dass diese Nachricht gegen Ende des Arbeitstages bekannt gegeben wurde, damit, dass man in Regierungskreisen befürchtete, die Wirkung dieser Nachricht nicht vorhersehen zu können und es deshalb als vorteilhaft erachtete, sie erst gegen Abend zu verbreiten.
In den Augen der Künstler, eines Haufens reizbarer, ungeduldiger Verehrer des Dichters und der Dichtkunst, „ausgerechnet“ in der zweiten Tageshälfte – ein Zeitpunkt, wo ihre schöpferische Energie schwindet, ihre überhitzten Köpfe völlig erschöpft sind.
Andere wiederum sagten, der Staat habe mit der Geheimhaltung der Nachricht bis zum Abend lediglich das Ziel verfolgt, dem Dichter und seinen Anhängern am Vorabend der Vollversammlung des Schriftstellerverbandes eine Art Überraschung zu bereiten.
Was aber die eigentliche Absicht des Staates betrifft, hieß es, dass die Zahl derer, die es als Schande betrachten, in einem Land zu leben, dessen größter Dichter immer noch keine Wohnung hat, von
Tag zu Tag gestiegen ist.
Angehörige des Literaturbetriebes wurden nicht müde, darüber zu schreiben und zu reden. Die Zeitungen schrieben: „tausende begeisterter Anhänger schließen sich dieser berechtigten Welle der Unzufriedenheit an. Diese beinahe schon an einen allgemeinen Volksaufstand erinnernde gefährliche Welle scheint aber weder die Leitung der Schriftstellervereinigung noch die Staatsbeamten zu beunruhigen.“
Ein Teil der Literaturwelt brachte diese Gleichgültigkeit des Staats der Dichtkunst gegenüber mit der bekanntermaßen äußerst herzlichen Beziehung des Dichters zu Angehörigen der vorherigen Regierung, insbesondere zu dem vorigen Präsidenten in Verbindung. Es heißt, diese Gleichgültigkeit habe sich nach einem, dem vorigen Präsidenten gewidmeten Gedicht noch verstärkt. Doch unabhängig davon, wem es gewidmet ist, ist dieses Gedicht ein bedeutendes literarisches Werk – schrieben die Kritiker.
Ein großer Teil der Oppositionellen aber, deren Hass auf die Regierung sich zunehmend verdichtete und dabei war, in Liebe umzuschlagen, sagte, ebenjenes Gedicht habe die geistigen stützen der jetzigen Regierung gründlich erschüttert. Sie sagten das so, als hätten sie die geistigen stützen der Regierung mit eigenen Augen gesehen.
Die Kollegen des Dichters aber ärgerten sich über dieses ganze Gerede.
„Was hatte denn der Dichter mit Politik zu tun? Was interessierte es ihn schon, wer wen beleidigte, warum und wozu?“, fragten sie und schüttelten die Köpfe. Er war doch schließlich über Politik und alles was dazugehört, erhaben ... die aggressiven Mitglieder der Vereinigung jedoch lasteten die größte Schuld am langjährigen Wohnungsproblem des Dichters der Leitung der Schriftstellervereinigung an, weshalb sie diese in Presse, Fernsehen und Radio immer wieder als hilflose, schwache, tote Organisation bezeichneten.
Es hieß, unter diesen chaotischen Verhältnissen habe der Vorsitzende Vəfa müəllim am allermeisten gelitten. Ungeachtet dessen, dass Vəfa müəllim immer und überall geschrieben und gesagt hatte, dass sich die Schriftstellervereinigung nach der Zeit des totalitären Regimes angeblich in eine demokratische Organisation eines unabhängigen Landes verwandelt habe und in Wirklichkeit in einem jämmerlichen Zustand sei, schien es, als hätte niemand seine Worte gehört.
Die Tatsache, dass der Dichter keine Wohnung hatte, löste alle vernünftigen Argumente in nichts auf, gleich einem Wassertropfen, der in eine heiße Pfanne fällt. Seinen Kollegen von der Schriftstellervereinigung zufolge habe sich diese Angelegenheit in den letzten Monaten auf den Gesundheitszustand Vəfa müəllims ausgewirkt. In den letzten Tagen hätten ihn manche sogar wiederholt in der Klinik der Vereinigung gesehen, allein in einem Raum voller mit Kunstleder überzogener, weicher Betten liegend, wo ihm Beruhigungsmittel verabreicht worden seien.
Es hieß, in letzter Zeit käme er morgens sehr früh zur Arbeit, gehe in sein Büro und versperre die Tür von innen. Mit denjenigen, die die Sekretärin zu ihm ließ, spreche er kaum. Es sei so, als wolle er alle von sich fernhalten. Wenn er wieder allein sei, nehme er die Brille ab und lege sie auf den Tisch, massiere sich das Gesicht mit beiden Händen, blicke auf die an der gegenüberliegenden Wand angebrachte Holztafel, in die die Unterschriften der verstorbenen Koryphäen der nationalen Literatur eingraviert sind, und versinke in Gedanken …
Es heißt sogar, als Reaktion auf die Aussage des Literaten Dəniz – einem Freund des Dichters – in irgendeiner Rede, dass das Gebäude der Schriftstellervereinigung geräumt und der Familie des Dichters zur Verfügung gestellt werden sollte, woraufhin Vəfa müəllim sofort eine Versammlung einberief und diese Frage zur Diskussion stellte. Als jedoch klar wurde, dass das Gebäude laut Gesetz auf keinen Fall als Wohnraum genutzt werden dürfe, verstärkten sich die Ringe unter den Augen des Dichters. Sein Gesicht nahm wieder den traurigen Ausdruck an, den es in der letzten Zeit gehabt hatte. Seine verzweifelten Augen starrten wieder auf die an der gegenüberliegenden Wand angebrachte Tafel mit den Unterschriften.
Dass der Dichter völlig verarmt, weit von der Stadt entfernt, in einem nach Feuchtigkeit und schmutz riechenden winzigen baufälligen Haus zur Untermiete wohnte, erzürnte vor allem die Literaten des „Qələm“-Literaturzentrums, wo er selbst arbeitete, und dessen reizbaren Direktor, den Dramaturgen und Prosaschriftsteller Qulam Hüseynli, außerordentlich.
Schon ein paar Tage, bevor Əhməd Ağləpə die Nachricht überbrachte, sah Qulam Hüseynli aus unerfindlichen Gründen im Traum zahlreiche Soldaten. Die Soldaten hatten das zweistöckige Literaturzentrum umzingelt und schauten mit furchterregenden Gesichtern durch die Fenster herein.
Am nächsten Tag kam Qulam Hüseynli sehr nachdenklich zur Arbeit, rief gleich seinen Freund, den Verleger Fərəc, zu sich und erzählte ihm mit geistesabwesendem Blick den Traum.
Nachdem ihm der kleine, grauhaarige Freund aufmerksam zugehört, kurz überlegt, dann wie gewohnt mit hochgezogenen Brauen, gesagt hatte: „das bedeutet, dass wieder ein Regierungssturz kommt ...“, konnte Qulam Hüseynli an seinen spitzbübischen Augen nicht erkennen, ob das freundschaftliche Worte waren oder wieder der gewohnte grobe Sarkasmus. Und als gegen Ende des Arbeitstages Əhməd Ağləpə mit aufgeregtem Gesichtsausdruck durch die Bürotür hereinschaute, sagte Qulam Hüseynli kein Wort, obgleich er sich sofort an den nächtlichen Traum erinnerte. Er wartete mit einer seltsamen, gar nicht zu ihm passenden Geduld darauf, was Ağləpə zu sagen gekommen war.
„Qulam müəllim, sie haben dem Dichter jetzt endlich eine Wohnung gegeben!“
Ağləpə sprach wie mit Ausrufezeichen und schwankte leicht. Von dieser unerwarteten Nachricht füllten sich Qulam Hüseynlis Augen sofort mit Tränen, er sah das sorgenvolle Gesicht des Dichters vor sich. Dieser sah ihn mit seinen gequälten, blauen Augen an und sprach in seiner spöttischen Art: „mach dir keine Sorgen, Quli, so war es schon immer. Dem Dichter ziehen sie die haut ab, seine Brust aber schmücken Kugeln ...“, dann entfernte er sich mit seinem schweren, schwankenden Gang und verschwand.
„Es heißt, die Wohnung habe ihm der Präsident persönlich geschenkt. Es heißt, am Ende der Veranstaltung, als alle schon aufgestanden und im Weggehen begriffen waren, sei der Präsident plötzlich stehen geblieben, habe sich umgedreht, die linke Hand erhoben und die Leute zurückgehalten ... Ob’s wahr ist oder nicht, er soll sogar einen Vers des Dichters rezitiert haben ...“ Ağləpə erzählte das alles in einem Atemzug. „Wer hat dir das erzählt?“ der Dichter Dəniz war irgendwann zu den beiden gestoßen und begab sich zu seinem Stammplatz am Fenster. So fragte er, und blickte dabei mit verschränkten Armen aus dem Fenster.
„Qaya Qarayel.“
„Was hat Qaya Qarayel damit zu tun?“
Qulam Hüseynli blickte in die Ferne und zuckte nervös mit den Schultern.
„Ich sah ihn, wie er gerade die İstiqlaliyyət-straße hinunterging. Er war so aufgeregt ... so habe ich ihn noch nie gesehen ... seine Stimme zitterte, wenn er sprach.“
Nach diesen Worten Ağləpəs breitete sich plötzlich stille aus. Jeder starrte vor sich hin und dachte nach.
Da wurde die Tür geöffnet.
Fərəc ging, der Stimmung im Raum entsprechend, mit kleinen lautlosen Schritten zu seinem üblichen Platz in der oberen Ecke des Zimmers und setzte sich in den riesigen braunen Sessel mit der hohen Rückenlehne.
„Er hat es von sich aus gesagt ... Ich habe überhaupt nicht gefragt. Er sagte, gestern Nacht hätten sie bei ihm zu Hause angerufen und ihn eilig in den Präsidentenpalast beordert, dort hätten sie von ihm verlangt, über den Dichter eine Art Gutachten – oder was auch immer – zu schreiben ...“ Ağləpə hielt inne und blickte auf die Anwesenden.
Qulam Hüseynli starrte geistesabwesend auf einen unbestimmten Punkt auf dem Tisch, Dəniz schaute mit verschränkten Armen zum Fenster hinaus, Fərəc blickte auf seine alten, löchrigen Schuhe, die, da er die Beine übereinandergeschlagen hatte, niemand übersehen konnte. Der Dichter Aslanoğlu, Chefredakteur des Journals „Yeni Füyuzat“ schaute auf die leere Zündholzschachtel, mit der er herumspielte, die anderen sahen ihn mit fragendem Blicken an.
„Ja. Jetzt wird Qarayel nicht mehr auszuhalten sein ... er wird sagen, er habe dem Dichter die Wohnung verschafft ...“, schrie Aslanoğlu unvermittelt, schüttelte den Kopf und schaute die anderen an.
In dem Moment läutete das Telefon, und selbst am anderen Ende der Leitung war Qaya Qarayels Geschrei zu hören. er berichtete lauthals – wie immer in einem Atemzug – von dem Gutachten, das er letzte Nacht im Präsidentenpalast über den Dichter und dessen Werk verfasst hatte und legte, ohne eine Antwort abzuwarten, auf. Oder war vielleicht die Leitung unterbrochen worden?
Qulam Hüseynli verharrte einen Moment mit dem Telefonhörer in der Hand, als wartete er auf etwas, dann legte auch er auf und sagte nachdenklich: „Er sagt, es geschah nach seinem Gutachten.“
„Was sagt er?“, murmelte jemand am anderen Ende des Zimmers.
„Er sagt, nachdem sie das Gutachten gelesen hatten, sei dieses Thema zur Sprache gekommen ... er meint die Wohnungsangelegenheit des Dichters“, sagte Qulam Hüseynli, der an diesem Durcheinander beinahe erstickte.
Solch chaotische Angelegenheiten, unvernünftiges Durcheinander und Unbestimmtheit raubten ihm immer die Geduld. Qulam Hüseynli war auch in seiner Literatur so. All seine Werke zeichneten sich durch große Klarheit des Ausdrucks, der Sätze und logische Gedankenführung aus. Wenn Kritiker Qulam Hüseynlis Werk analysierten, bezogen sie sich vor allem auf die klare Logik und den einfachen künstlerischen Ausdruck.
„Was habe ich gesagt! ... seht ihr ...“, rief Aslanoğlu mit funkelnden Augen und schaute die anderen an.
„Um Himmelswillen, sprich leiser!“, sagte Qulam Hüseynli, ohne Aslanoğlu anzusehen, und massierte sich das Gesicht, „das reicht uns so schon ...“
Als es draußen dunkel war und sich die Literaten, die sich wegen der Wohnung des Dichters versammelt hatten, in alle Winde zerstreuten, blieben Qulam Hüseynli und Fərəc – wie immer in Extremsituationen – allein im Büro des Direktors zurück. Nun schien die Dunkelheit sogar in Qulam Hüseynlis hell erleuchtetes Zimmer einzudringen...
„Da kommen noch ein paar Varianten infrage“, sagte Fərəc, während seine kleinen Augen im Rauch nach irgendetwas suchten. „Erstens kann es sein, dass der Präsident damit ganz einfach in die Geschichte eingehen und zugleich wie ein gerechter Schah in Erinnerung bleiben möchte, der dem wichtigsten Dichter des Landes die Existenz ermöglicht.“
Fərəc sagte dies und warf einen Blick auf Qulam, stellte fest, dass dieser ihm zuhörte, und fuhr fort: „es kann auch sein, dass die Poesie des Dichters den Präsidenten, der Literatur und Dichtung von ganzem Herzen liebt, tatsächlich so beeindruckt hat ... und er das im Namen der Literatur getan hat, ohne weitere Absichten. eine andere Version wiederum ...“
In dem Moment läutete das Telefon und Qulam Hüseynli stürzte sich beinahe mit seinem ganzen Körper darauf. Vom anderen Ende der Leitung hörte man Dənizʼ aufgeregte stimme.
„Meiner Meinung nach ist die einzige Möglichkeit die, dass der Präsident die Liebe des Dichters benötigt ...“, dann sprach dəniz darüber, wie viel Kraft die Liebe eines Dichters den Menschen gibt, brach mitten in seinen Erläuterungen ab und verabschiedete sich so, als habe er es eilig, irgendwohin zu gehen.
„Die dritte Version wäre“, fuhr Fərəc fort, als sei nichts gewesen, und drückte zählend den dritten Finger in seine Handfläche, „dass er die Literatur versteht!“ unvermittelt unterbrach Qulam Hüseynli Fərəc, sein Gesicht leuchtete auf, „das heißt er versteht alles“.
Weil Fərəc in Qulams Gesicht seit Jahren keine solchen Leuchten gesehen hatte, fühlte er sich einigermaßen unbehaglich.
„Natürlich versteht er“, sagte er etwas verwirrt und zuckte mit den Schultern.
„Das habe ich immer gesagt ... und ich sage es noch einmal ... Vielleicht ist gerade er der größte Literat.“
„Das heißt, er versteht uns ...“, Qulam Hüseynli schien diesmal zu sich selbst zu sprechen und spürte, wie es ihm den Hals zuschnürte.
In solchen Situationen, das heißt wenn Qulam Hüseynli aus irgendeinem Grund sentimental oder traurig wurde, fühlte sich Fərəc schlecht. Immer wenn sein mutiger Jugendfreund, der Autor unzähliger Werke war, aus irgendeinem Grund verstört und schwach wurde, berührte ihn das unangenehm, fühlte er sich irgendwie an dessen Schwäche schuldig.
Aber diesmal erschütterte ihn der Zustand seines Freundes, der die Literatur wie das Leben selbst liebte, zutiefst ... Was ihn aber am meisten traf, war, dass Qulam Hüseynli, dieser 51-jährige stattliche Mann, in dem Moment einem hilflosen Kind ähnelte.
Den ganzen Abend saß Qulam Hüseynli in seiner einsamen Einzimmerwohnung im Sessel vor dem Fernseher, döste vor sich hin, und wenn er auch über die Versionen nachdachte, die Fərəc vorhin aufgezählt hatte, konnte er mit keiner davon wirklich etwas anfangen.
Wenn etwas klar war, dann die Tatsache, dass der Präsident dem Dichter, der Tag und Nacht in Presse und ausländischen Radiosendungen die Regierung und ihre kindische Politik anprangerte, völlig unerwartet eine Wohnung gegeben hatte ...
Dann sah Qulam Hüseynli, als er vor dem Fernseher eingeschlafen war, im Traum Fərəc. Der warf ihm einen verschmitzten Blick zu und sagte: „sein größtes Werk aber sind wir!“
Am nächsten Tag ging es in Literatenkreisen, Zeitungsredaktionen, Schriftstellervereinigungen drunter und drüber. Überall wurden auf die Wohnung des Dichters getrunken, Trinksprüche zu seinen Ehren ausgebracht. Texte für die Presse vorbereitet, dem Präsidenten Danksagungen geschickt...
Es hieß, eine Handvoll Literaten, die von dem Ereignis schwer beeindruckt waren, hätten dem Präsidenten ein dreiundzwanzigseitiges Telegramm geschickt, in dem die Rede sei von der Macht des Dichterworts, Menschen zu beeinflussen, von Veränderungen und Widersprüchen, die Worte in Herzen und Köpfen bewirken und schließlich von der physischen Kraft des Wortes, das die Macht habe, Dinge zu verändern.
Anhänger des Dichters wiederum sollen zum Zeichen dieses Sieges der Dichtkunst zum Grab irgendeines mittelalterlichen Poeten gepilgert sein, dort einen Tag der Dichtung veranstaltet, Gedichte jenes Dichters, der die Wohnung bekommen hatte, rezitiert und Blumen auf das Grab des toten Dichters gelegt haben.
Es heißt, dass ein paar Freunde des Dichters das winzige baufällige Haus in der abgelegenen Kleinstadt aufgesucht hätten, um ihn zu beglückwünschen. Sie hätten ihn dort aber nicht ob der unerwarteten Nachricht überglücklich, sondern im Gegenteil in einer finsteren Ecke des Hauses, mit dem Gesicht zur Wand, als sei er mit der ganzen Welt verfeindet, vorgefunden. Es heißt, als der Dichter seine Freunde gesehen habe, sei er aufgestanden und schwerfällig auf Beinen, die so angeschwollen waren, dass sie Säulen glichen, da die Enge der Wohnung jede Bewegung verhinderte, auf sie zugegangen und habe mit schuldbewusstem Gesichtsausdruck gesagt: „Er hat sie von sich aus hergegeben ... ich wollte sie nicht ...“, und habe seine Kollegen völlig verstört angeblickt.
die Aufregung darüber, dass der Präsident einem Dichter, der die Opposition öffentlich unterstützte, eine Wohnung versprochen und obendrein einen Vers seines Gedichts rezitiert hatte, ging binnen eines Tages über die Literatenkreise hinaus und bemächtigte sich aller – gleichgültig, ob sie mit Literatur zu tun hatten oder nicht.
Eine Version war die, dass der Präsident damit, dass er dem Dichter „auf der Stelle“ eine Wohnung gegeben hatte, vor der Wahl bloß Punkte sammeln wolle. Nämlich: die große Schar der Anhänger des Dichters, plus die den Dichter verehrenden Oppositionsparteien, plus die Literatenkreise ...
Einer anderen Version zufolge sei die Tatsache, dass der Präsident dem Dichter eine Wohnung gegeben hatte, ein weitsichtiger Schritt gewesen, der bezwecke, dass der große Meister des Wortes irgendwann auch zu seinen Ehren ein Porträt schreiben werde.
Dass der vorige Präsident – ein einfacher Sprachwissenschaftler –, der unerwartet und, wie es heißt, sogar ohne es beabsichtigt zu haben, an die Macht gekommen war, ausgerechnet durch eines seiner Gedichte plötzlich zur Legende geworden und von tausenden Menschen geliebt worden war, war gar keine Lappalie und hatte offenbar genau deswegen die Aufmerksamkeit des jetzigen Präsidenten erregt.
Wenn nun der Dichter mit seiner edlen Kunst ein Porträt des Präsidenten, dieses weisen Herrschers, der für die macht geboren war und sein Leben dem Volk opferte, verfassen würde, so könnte sein Andenken nicht in der hundertsten, ja vielleicht nicht einmal in der tausendsten Generation aus dem historischen Gedächtnis gelöscht werden.
Am nächsten Abend – einem stürmischen, kalten Herbstabend – stieß Qulam Hüseynli, der immer noch in einem Meer von Versionen schwamm, auf dem Heimweg an einer finsteren Ecke mit jemandem zusammen:
„Ach, mein Lieber ...“, wimmerte der Mann, mit dem er zusammengestoßen war, mit schwacher Stimme und legte, ohne sein Gesicht zu zeigen, den Kopf an Qulams Brust, als hätte er schon die ganze Zeit heimlich an dieser dunklen Ecke auf ihn gewartet.
„Ich habe es gewusst ... ich habe es immer gewusst, du bist der Jüngste und der Aufrichtigste von uns ... Ja, du Quli ...“
Qulam Hüseynli erkannte den weißhaarigen Salah Sarizadə, der sein ganzes Leben und seine Schaffenskraft dafür verwendete, dicke Romans über die tragischen Folgen des Erdöles und über die Schicksale der aufrichtigen Arbeiter mit ölverschmierten Händen zu schreiben, an seinem liebenswerten Akzent.
„Das heißt, alles war umsonst. Alles nur Lüge“, irgendwo in der Ferne verlor sich die Stimme des Alten und kehrte dann zurück. „Die Literatur, die wir mit unserem Blut und unserem ganzen Sein geschaffen haben, der wir unser ganzes Leben gewidmet haben, braucht überhaupt niemand. Quli.“
Sarızadə sprach, den Kopf immer noch an Qulam Hüseynlis Brust gelehnt, als sei er nicht in der Lage, sich von ihm zu lösen und alleine zu stehen der Alte schien zu weinen ... oder kam es ihm nur
so vor?
Er schob den dürren, kraftlosen Körper des alten Schriftstellers ganz behutsam von sich weg und sah ihm ins Gesicht:
„Warum soll sie denn nicht gebraucht werden?“
„Nein, nein ... würde sie gebraucht, wenn der Wert der Literatur erkannt werden würde, hätten sie das nicht getan ...“
Als der Alte sprach, zitterte seine Stimme, seine Kehle war wie zugeschnürt, er verzog das Gesicht wie ein beleidigtes Kind.
„Was haben sie denn getan. Salah müəllim?“
„Während ich, der seit fünfzig Jahren Schriftsteller bin, Autor von 32 Romanen und 114 Erzählungen, ein Kriegsversehrter noch dazu, der sein ganzes Leben der Literatur gewidmet hat, seit vielen Jahren in einer Gemeinschaftswohnung am Stadtrand lebe, vergeben sie Wohnungen an solche, die ohnehin schon drei oder vier haben ...“
Qulam Hüseynli erschrak über diese Worte Salah Sarızadəs. Er sah aufmerksam ins Gesicht des alten Schriftstellers, der seit vielen Jahren wegen seines aufrichtigen, liebenswürdigen Charakters unter den Literaten bekannt war.
„Wen meinen Sie? Salah müəllim? Wenn Sie den Dichter meinen, den Ärmsten ...“
„Welchen Dichter, mein Lieber? ... gerade vorhin haben sie angerufen und gesagt, dass der Präsident anlässlich der Vollversammlung allen Mitgliedern des Altenrates Wohnungen versprochen habe.“
Qulam Hüseynli wollte irgendetwas dazu sagen, doch da wandte sich Sarizade abrupt ab, ging schleppend in seinen alten kaputten Stiefeln auf die andere Straßenseite und murmelte irgendetwas über
den Altenrat vor sich hin. Dann rief er:
„Ich habe einen neuen Roman geschrieben! Ich schicke ihn dir! Wieder übers Erdöl!“, und schlurfte davon.
Als Qulam Hüseynli nach Hause kam, zeigten sie im Fernsehen gerade das Treffen im Präsidentenpalast. Diesmal betrat der Präsident den Raum nicht wie üblich durch die zweiflügelige Eingangstür des Versammlungssaales, sondern er kam irgendwo hinter Wänden, die beinahe aneinanderstießen, zum Vorschein. Seine Erscheinung war beeindruckend; einen Moment blieb er vor der drei farbigen Nationalflagge stehen, als würde er auf irgendetwas warten, dann setzte er sich – als habe er einen Befehl erhalten, den gewöhnliche Ohren nicht hören können – an seinen Platz ans obere Ende des riesigen Metalltisches. Er wandte sein rosafarbenes Gesicht den Anwesenden zu, blickte sie mit seinen hellgrauen Augen, in denen sich die Iris kaum vom Weiß abhob, an, lächelte und sagte irgendetwas.
Die altehrwürdigen Schriftsteller hatten sich aus irgendeinem Grund alle auf eine Seite, nämlich die rechte Seite des Tischs gesetzt, mit zufriedenem und zugleich angespanntem Lächeln blickten sie den Präsidenten an. Der Präsident schaute auf seine auf dem Tisch gefalteten Hände und sprach. Während der Präsident seine eigenen Hände anschaute, schien er zugleich auch die im Saal sitzenden anzusehen. Oder kam es nur Qulam Hüseynli so vor?
Als dann einige Zeit später die Kamera begann, die einzelnen Gesichter der Schriftsteller und Dichter in Großaufnahme zu zeigen, hielt Qulam Hüseynli unwillkürlich den Atem an. Die Gesichter dieser altehrwürdigen Literaten, die er seit Jahren kannte, hatten sich plötzlich so verändert, dass Qulam Hüseynli vor Entsetzen beinahe das Herz stehen geblieben wäre.
Der vorn sitzende alte Volksdichter Küskün glich aus irgendeinem Grund dem neben ihm sitzenden Volksschriftsteller, dem Prosaautor Tari Verdiyev, dem zwei Sessel weiter unten sitzenden Dramaturgen und Prosaschriftsteller Sumbatli, dem auf dem allerletzten Sessel sitzenden Volksdichter Atilla Zərdüşt. Atilla aber, das war seltsam, glich dem beleidigten Sarızadə, mit dem er gerade eben auf der Straße an der dunklen Ecke zusammengestoßen war.
Nach einer Weile ging der Volksdichter Küskün mit leicht gebeugten Knien und schleppendem Gang zu dem am oberen Ende des Saales aufgestellten Rednerpult, das einem riesigen Nagel glich, stützte die gebeugten Arme aufs Pult und begann mit bleichem Gesicht aus irgendeinem Grund von den erfolgen, die das Land in den letzten Jahren erzielt hatte, von der Erdölförderung und der erfolgreichen Außenpolitik zu sprechen.
Genau in diesem Moment läutete das Telefon auf dem kleinen Tisch neben dem Sessel Qulam Hüseynlis.
„Qulam müəllim!“, Əhməd Ağləpə schrie am anderen Ende der Leitung so, als spräche er von irgendeiner weit entfernten, von hohen Wellen umgebenen, stürmischen Insel. „Wissen sie schon, was passiert ist?“. Zwischendurch ging seine Stimme immer wieder verloren, als hätte sich die Leitung mit wässrigem Meeresschaum gefüllt.
„Sprich lauter, ich kann dich nicht gut hören!“, schrie Qulam Hüseynli und legte seine Hand um die untere Seite des Hörers und schrie.
„Der Dichter Küskün ist gestorben!“
„Küskün?“, Qulam blickte auf den immer noch im Fernsehen mit bleichem Gesicht von der Außenpolitik sprechenden Küskün und fühlte, wie ihm der kalte schweiß ausbrach.
„Bist du verrückt geworden, oder was? Der Mann ist gerade ...“
„Das ist eine Videoaufnahme! Das Treffen war um sechs Uhr zu Ende! Küskün ist gleich dort im Lift des Präsidentenpalastes gestorben! Es heißt, ganz plötzlich seien seine Knie eingeknickt, sein Kopf auf seine Brust gefallen. Zuerst glaubten sie, sein Herz habe ausgesetzt, aber nachdem der Rettungswagen gekommen war, konnten sie nur noch sein Gesicht bedecken!“
Əhməd Ağləpə erzählte dann noch schreiend, während Wellen eines unbekannten Meeres die Telefonleitungen durchnässten und beinahe ausrissen, von den Ereignissen, die sich nach dem Treffen mit dem Präsidenten zugetragen hatten.
Nach Ağləpəs Erzählung hatte sich nach dem Treffen auch der Zustand einiger der anderen Alten sehr verschlechtert. Der Volksschriftsteller Nemət Özəl, dessen Werke über die nationale Tragödie in den letzten Jahren zweimal mit dem Staatspreis ausgezeichnet worden waren, wurde gleich mit dem Rettungswagen in ein Krankenhaus gebracht, weil in einem der Gänge des Präsidentenpalastes sein Puls ausgesetzt hatte. Ağləpə zufolge war auch das Befinden der anderen nicht gut...
„Vor dem Präsidentenpalast wimmelt es nur so von Rettungswagen.“ Ağləpə war vom vielen Schreien schon ganz heiser.
„Woher rufst du denn an?“ Qulam Hüseynli schrie ebenfalls aus Leibeskräften.
„Gleich von hier, vor ihrem Haus!“ schrie Ağləpə.
Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, dröhnte es Qulam Hüseynli noch in den Ohren. Von dem schrecklichen Szenarium, das Ağləpə geschildert hatte, blieb ihm die Spucke weg. Sie haben die alten Schriftsteller aus dem Präsidentenpalast geholt und in weiße Rettungsautos gesteckt, so wie man in der Schlacht schwer verwundete Soldaten aus Schützengräben holt!
Im Fernsehen noch war die Verfassung der Alten gut gewesen. Jeder einzelne stand auf, ging mit bleichem Gesicht zum Rednerpult, sprach dort über Dinge, die mit Literatur nichts zu tun hatten, und verließ das Rednerpult aufgewühlt und stolz. Nachdem sie sich gesetzt hatten, wurden sie aber noch bleicher.
Am Ende des Treffens, als die Schriftsteller schon aufgestanden waren und den Versammlungssaal verlassen wollten, schwenkte die Kamera plötzlich auf den Präsidenten, der im Gehen innehielt, sich umwandte, seine linke Hand hob und „einen Moment“ sagte.
Der Präsident überlegte kurz und ließ den Bürgermeister rufen, und ohne jede Erklärung gab er die Anweisung, jedem der ehrwürdigen Künstler eine Vierzimmerwohnung zur Verfügung zu stellen, dann rezitierte er ein Gedicht irgendeines der anwesenden Volksdichter und damit endete die Sendung.
Qulam Hüseynli konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Der Präsidentenpalast, vor dem es von Rettungswagen nur so wimmelt, die Rede des Präsidenten, der dabei auf seine eigenen Hände schaut, die Schriftsteller, die sich aufgrund eines furchtbaren Geheimnisses verändern... All das stand ihm vor Augen.
Qulam Hüseynli sah das alles sogar im Traum ... auch Kollegen, die bereits vor ein paar Jahren gestorben waren – Məmmədyar, der sich aus Geldnot erhängt hatte, Səid Mirzə, dessen Leber der Alkohol zersetzt hatte, Surxay, dessen Herz nachts im Schlaf zu schlagen aufgehört hatte. Elbrus, der vom lauten Sprechen eine Hirnblutung bekommen hatte, war dort, mischte sich unter die Angestellten des Präsidentenpalastes und legte die zusammenbrechenden auf Tragebahren.
Von den Worten, die ihm Əhməd Ağləpə von einer einsamen Telefonzelle auf einer winzigen Insel mitten im finsteren, stürmischen Meer aus zugeschrien hatte, standen ihm die Haare zu Berge.
„Das tut er für die Literatur! Für die große Literatur!“
Am nächsten Tag sorgten die Wohnungsvergabe an die alten Schriftsteller sowie die vielen verschiedenen Nachrichten über den Gesundheitszustand der Alten wieder für große Aufregung in den
Literatenkreisen.
Das Begräbnis des Volksdichters Küskün wurde aufgrund des Beschlusses der staatlichen Begräbniskommission drei Tage später, am Tag nach Beendigung der Vollversammlung angesetzt.
Es hieß, der Volksschriftsteller Nemət Özəl sei nach dem Treffen den ganzen Abend wegen einer Herzschwäche bewusstlos gewesen. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, habe er völlig unerwartet Fieber bekommen. Obwohl die Ärzte, die sich den unerwarteten Temperaturanstieg nicht mit der Herzschwäche erklären konnten, diverse Analysen durchführten und ein Konsilium der bekanntesten Ärzte der Republik einberufen hatten, um durch eingehende Untersuchungen die Ursachen des hohen Fiebers zu finden, konnten sie zu keinem genauen Ergebnis kommen. Es hieß, dass dieser ehrwürdige Schriftsteller, der sein ganzes Leben der Literatur gewidmet hatte, die ganze Nacht bis übers Kinn zugedeckt, bewusstlos in hohem Fieber gezittert habe. Erst gegen morgen habe er die Augen ein wenig geöffnet und gesagt: „Das hat er nur meinetwegen getan.“ Dann habe er das Bewusstsein wieder verloren.
Und auch Atilla Zərdüşt soll in sehr schlechter Verfassung gewesen sein. Dieser engagierte Kämpfer für die Literatur sei nach dem Treffen mit dem Präsidenten wortlos in sein Zimmer gegangen, habe die Tür abgesperrt und nicht geöffnet, als seine Angehörigen, später auch Nachbarn klopften und laut schrien. Spät nachts hätten die Nachbarn die Tür aufgebrochen, das Zimmer betreten und ihn mit verzerrtem Gesicht auf dem Boden liegend angetroffen. Als sie ihn auf einer Bahre die Stiegen hinuntertrugen, soll er mit schwerer Zunge, nur mühsam sprechend „Das hat er meinetwegen getan ...“, gesagt haben.
Bezüglich der Wohnungsvergabe an die ehrwürdigen Schriftsteller tauchten immer neue Versionen auf und vermischten sich mit den bislang bekannten. Ein Teil der Literaten sah in der Handlung des Präsidenten die Absicht, diese Genies, die es in den letzten Jahren meisterhaft verstanden hatten, sich dem häufig wechselnden politischen Klima anzupassen und jedem neuen Präsidenten ihre Loyalität in unvergleichlicher Art zu bekunden, zu beschämen.
Ein anderer Teil wiederum meinte, nur weil der Präsident von den neuen, begabten literarischen Kräften keine Ahnung habe, halte er diese nach Mottenkugeln riechenden Autoren für die alleinigen Vertreter der nationalen Literatur und habe am Vorabend der Vollversammlung seine Wertschätzung durch diese Handlung zum Ausdruck bringen wollen ... und so weiter.
Als Qulam Hüseynli, noch unter dem Eindruck des Traumes der letzten Nacht, ins Literaturzentrum kam, hatte sich ein Teil der Foyer versammelten „Avantgardisten“ bereits zerstreut.
Als Dünya Qocagül, der Vorsitzende der Vereinigung, zornig die Fäuste hinter dem Rücken verschränkt, mit kleinen, schnellen Schritten – wie ein Ringkämpfer auf ihn zukam, wies ihn Qulam Hüseynli mit schwacher Stimme zurück: „Ich weiß ... aber jetzt kann ich nicht, Dünya.“
„Ich dachte nur, wir sollten sprechen“, sagte Dünya Qocagül, während er hinter Qulam Hüseynli die Stufen hinaufstieg.
„Was gibt es zu besprechen?“
„Wir haben eine Erklärung vorbereitet.“
„Was für eine Erklärung? Wollt ihr auch Wohnungen?“ Qulam Hüseynli drehte sich auf der Stelle um und blickte hasserfüllt in Dünya Qocagüls Gesicht, das vom vielen diskutieren schon ganz rot und schief geworden war.
„Warum denn nicht? Wir sterben vor Hunger, unsere Kinder kommen bei Bekannten unter, die aber geben die Wohnungen den Alten, die schon fünfzig haben!“
War es, weil Dünya Qocagül so aufgeregt gesprochen hatte, oder kam es von der Trauer über den plötzlichen Tod des Dichters Küskün, oder von den Worten, die Ağləpə vergangene Nacht im Traum gerufen hatte: „Das tut er nur für die Literatur!“? Jedenfalls wurde Qulam Hüseynli übel.
„Lass mich in Ruhe. Dünya! Ich bin wirklich nicht imstande. Tut was ihr wollt!“
Fərəc saß wie üblich im Türkensitz in einer Ecke des riesigen Sessels mit der hohen Lehne und wartete auf Qulam. Sobald dieser eintrat, sagte er: „Funktioniert euer Telefon nicht?“, und wand sich
unbehaglich auf seinem Platz.
Den ganzen Tag ließ Qulam Hüseynli niemanden zu sich ins Zimmer, saß Fərəc gegenüber und versank im Zigarettenrauch, der sich mit dem Nebel seiner Gedanken vermischte. Nach langem Schweigen sagte Fərəc: „Offenbar hält ein alter Organismus das Gefühl der Freude nicht aus“, und schluckte.
„Irgendwie ist das alles sehr verworren“, sagte Qulam Hüseynli und blickte geistesabwesend in die Ferne. „Viel verworrener als wir denken.“
Gegen Abend klopfte es leise an der Tür und sie öffnete sich. Ağləpə war wieder so aufgeregt wie neulich und stolperte beim Eintreten über die Türschwelle.
Qulam Hüseynli stockte beim Anblick Ağləpəs der Atem „Was ist denn nun schon wieder passiert?“
„Auch die Jungen haben Wohnungen bekommen! gerade jetzt, auf persönliche Anordnung des Präsidenten. Angeblich hat er wieder ein Gedicht rezitiert.“
„Wer?“
„der Präsident ... eines aus dem letzten Zyklus von Səhhət Qurumgöy.“
„Unseres Səhhəts?“
„Ja. “
Ağləpə schien sich setzen zu wollen, tat es aber aus unerfindlichen Gründen nicht.
Fərəc blickte Qulam Hüseynli mit funkelnden Augen an. Der schaute zuerst zu Fərəc und dann aus irgendeinem Grund auf die alten, kaputten Stiefel Ağləpəs, der noch immer an der Tür stand.
An diesem Abend begleitete Fərəc Qulam Hüseynli nach Hause. Die beiden Freunde standen noch lange vor dem Haustor und sahen einander an, während der Regen auf sie niederprasselte. Fərəc hatte den Kragen des abgetragenen Mantels hochgestellt und hielt ihn zu, sein Kinn zitterte vor Kälte.
„Ich habe Angst“, sagte er.
„Wovor hast du Angst?“, fragte Qulam Hüseynli, fühlte aber, als er in das Gesicht des leidenschaftlichen, klugen Fərəc blickte, wie ihm die Knie zitterten.
Fərəc sagte nichts. Vor Kälte tränten seine Augen. Hatte es ihm den Hals zugeschnürt? Er wandte sich ab und schien leicht zu zittern.
„Hast du Angst, dass auch welche von den Jungen sterben?“ Obwohl Qulam Hüseynli das halb im Ernst, halb im Scherz gesagt hatte, sah Fərəc ihn nicht an.
Als Qulam Hüseynli in die Wohnung kam, zeigten sie im Fernsehen gerade das Treffen des Präsidenten mit den jungen Schriftstellern. Wieder hielt der Präsident plötzlich inne, wandte sich um, rezitierte wieder mit erhobener Hand irgendein Gedicht.
In dieser Nacht sah Qulam Hüseynli im Traum den Präsidenten. Der stand in einem weißen Mantel vor einem riesigen Tisch voller unzähliger Kolben und Flaschen in verschiedenen Formen, gefüllt mit violetter und roter Flüssigkeit, und tat irgendetwas. Auch Qulam Hüseynli selbst war in diesem Chemielabor, er hatte sich hinter einem dicken Samtvorhang versteckt und beobachtete den Präsidenten. Dieser hielt einen der Kolben gegen das Licht und prüfte die Flüssigkeit, träufelte dann ganz vorsichtig ein paar Tropfen grüne Flüssigkeit aus einer winzigen Flasche in den Kolben mit der roten Flüssigkeit, die dann aufschäumte und dampfte. Der Dampf entwich und breitete sich im Zimmer aus. Er verdeckte sowohl den Präsidenten als auch den riesigen Tisch mit den Kolben, legte sich auf Qulam Hüseynlis Atemwege und veranlasste ihn würgend zu husten … genau in diesem Moment erklang in der Nähe, irgendwo mitten im Dampf, die befehlsgewohnte Stimme des Präsidenten: „Spioniere mir nicht nach, Qulam!“
Der Präsident betrat den hell erleuchteten Saal des Theaters durch den Vordereingang. Mit müdem Gesichtsausdruck blickte er auf die Menge, die ihm stehend applaudierte und winkte ihr zu, dann begab er sich in seinen funkelnagelneuen schwarzen Stiefeln in die erste Reihe, er hinkte leicht. Die anderen Regierungsmitglieder, die nach dem Präsidenten in den Saal gekommen waren, setzten sich hinter die leere Reihe, in der der Präsident allein saß, in die zweite Reihe.
Die Vollversammlung der Schriftstellervereinigung wurde eröffnet. Jeder, der ans Rednerpult trat, begrüßte als Zeichen der Hochachtung zuerst den Präsidenten und sprach dann, so wie bei den vorhergehenden Treffen, über die natürlichen Ressourcen des Landes, die Erdgasförderung und die Landwirtschaft.
Schweigend saßen Qulam Hüseynli und Fərəc in einer der hinteren Reihen nebeneinander. Qulam wandte sich um und suchte unter den Anwesenden nach Dəniz, konnte ihn aber nirgends entdecken.
„Der kommt nicht“, sagte Fərəc, wobei er zur Bühne schaute. „Er sagte, er verabscheue die alle ...“
Da erinnerte sich Qulam Hüseynli daran, wie Dəniz einmal, wie immer mit verschränkten Armen, aus dem Fenster blickend, gesagt hatte:
„Der Unterschied zwischen uns und ihnen ist folgender: Sie befinden sich im schwarzen Haus der Welt, wir aber im weißen.“
Auch die mittlere Literatengeneration, die mit ihren bereits zwei Monate zuvor vorbereiteten scharfen Reden die Leitung der Schriftstellervereinigung, die sich jahrelang ihrem Schaffen und ihren bedrückenden Lebensbedingungen gegenüber gleichgültig gezeigt hatte, war anwesend. Von der linken Seite des Saales aus warfen sie Vəfa müəllim, der im Vorstand saß, hasserfüllte Blicke zu.
„Ich habe das Gefühl, dass irgendetwas passieren wird.“
„Was soll passieren?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Fərəc. Dann wandte er sich Qulam zu und seine runden, eng beieinander liegenden Augen wurden vor Angst immer größer.
„Hast du gesehen, er hinkt“, sagte er.
„Na und?“, flüsterte Qulam Hüseynli und zuckte mit den Schultern.
„Er hat noch nie gehinkt!“, sagte Fərəc und wand sich nervös auf seinem Platz.
Dann schaute Qulam Hüseynli die ganze Versammlung hindurch zwischen den Köpfen der vor ihm sitzenden auf den Präsidenten, doch er konnte nur einen Teil seiner linken Schulter sehen. Es war seltsam, während der ganzen Zeit bewegte sich die Schulter des Präsidenten nicht ein einziges Mal, so, als habe er seine Jacke dort gelassen und sei selbst irgendwo anders hingegangen.
Gegen Ende der Versammlung stand der Präsident langsam auf und ging, wieder leicht hinkend, zum Rednerpult. Da kam es Qulam Hüseynli so vor, als seien es die glänzenden Stiefel, die den Präsidenten veranlassten, zu hinken.
Der Präsident stand einen Moment schweigend am Rednerpult und ließ seinen kummervollen Blick durch den dunklen Saal schweifen, als suche er jemanden, dann begann er mit seiner beeindruckenden stimme, die den ganzen Saal erzittern ließ, von der Dichtkunst zu sprechen, von den erfolgen, die die nationale Literatur in den letzten Jahren erzielt hatte.
Er sprach von der sensiblen Natur der Künstler, die sich für ihre Werke aufopferten. Dann sprach er ausführlich darüber, dass diese harmlosen Menschen großer Fürsorge seitens des Staates bedürften. Und, wieder hob er am Ende seiner Rede die linke Hand und gab mit einem seltsam traurigen Gesichtsausdruck bekannt, dass er unmittelbar vor der Versammlung angeordnet habe, allen 556 Mitgliedern der Schriftstellervereinigung Wohnungen zuzuteilen.
Nach dieser unerwarteten Mitteilung des Präsidenten herrschte völlige Stille im Saal.
In dieser Stille stieg der Präsident in den neuen schwarzen, drückenden Stiefeln leicht hinkend von der Bühne, die Hände auf dem Rücken verschränkt verließ er mit bekümmertem Gesichtsausdruck den Saal, ohne sich von jemandem zu verabschieden.
Erst danach zitterten plötzlich die Wände des Saales und die schweren Lüster an der Decke von dem Toben der Menge derart, dass Qulam Hüseynli merkte, wie sich sein Magen vor Aufregung verkrampfte. Sogar die Tränen, die ihm in die Augen getreten waren, zitterten.
Fərəc klatschte nicht, während die Angst in seinen Augen immer größer wurde, blickte er zur Saaldecke, die von dem entsetzlich lauten Geschrei und Geklatsche einzustürzen drohte. Am nächsten Tag veröffentlichten die staatlichen Zeitungen die Verfügung des Präsidenten.
Sie besagte, dass anlässlich der 39. Vollversammlung allen Mitgliedern der Schriftstellervereinigung für ihre Verdienste um die nationale Literatur Wohnungen zur Verfügung gestellt würden.
Gegen Mittag wurde in der Schriftstellervereinigung bekannt, dass auf persönliche Anweisung des Präsidenten in einem der abgelegensten Stadtteile, einige Kilometer von jeder Wohngegend entfernt, auf einem von einer hohen Mauer umgebenen Grundstück, das einer Kleinstadt ähnelte, ein zwanzigstöckiges riesiges Gebäude mit 556 Wohnungen für die Mitglieder der Vereinigung vorgesehen sei.
Nach dieser Anordnung des Präsidenten legte sich eine eigenartige Stille über die Literatenkreise.
Qulam Hüseynli, dessen Nerven von den unklaren, geheimnisvollen Ereignissen der letzten Tage angegriffen waren, begann, dieses furchterregende Gebäude im Traum zu sehen.
Die Bewohner dieses riesigen, von einer in den Himmel ragenden Mauer umgebenen Gebäudes mit 556 Wohnungen, das einem Grabstein glich, spazierten in zweiergruppen im Hof. Die lebhaften und leidenschaftlichen Künstler trugen eine besondere Kleidung – nämlich grün-gelb gestreifte Pyjamas. Nur diejenigen, die für diese sensible Künstlergemeinde in Zeitungskiosken, Frisiersalons, Krankenhäusern und Lebensmittelgeschäften arbeiteten, trugen spezielle weiße Kleidung.
Weil Qulam Hüseynli – als einziger – keinen Pyjama erhalten hatte, konnte er seine Wohnung nicht verlassen. er kletterte auf das hohe, zweiflügelige Fenster, schaute in den Hof und rief aus Leibeskräften nach Fərəc, der in einem gut sitzenden Pyjama mit den anderen schriftstellern Ənzəli tanzte.